Shavasana als Überschreibung - 1. Teil (Rundbrief, 11.01.2021)

Gegenüber vielen anderen körperlichen Betätigungen unterscheidet sich eine yogische Praxis auch darin, dass an ihrem Ende eine stille Liegeposition auf dem Rücken mit ausgestreckten Gliedern eingenommen wird. Shavasana, so der Name dieser Haltung, heißt übersetzt: "Leichnamshaltung" (shava/Leichnam & asana/Haltung). Ich erinnere mich, dass ich als Kind - ich war wohl sechs Jahre - so liegend mit gefalteten Händen auf dem Herzen von meinen Eltern entdeckt wurde, die sich doch sehr wunderten.

Viel später dann sah ich den Film "Frühling, Sommer, Herbst und Winter ... und Frühling" des südkoreanischen Regisseurs Kim Ki-duk. Darin lehrte ein Mönch, der auf einer Floß-Klause auf einem See lebte, seinem Schüler die angemessene Lage der Nachtruhe - eben auf dem Rücken, und ich glaube es galt den Kopf auf einem Steine zu betten. Manche Bilder verlassen einen nie mehr, manche Botschaften dringen tief ins Gedächtnis ein und gewinnen einst ihre volle Bedeutung. So jetzt.

Die stille Rückenlage bezeichnet die Fähigkeit, offen, schutzlos und zugewandt zu aller kosmischen Erscheinungswelt ausharren zu können. Da ist kein Abdrehen, kein Wegwenden, kein Insichkriechen mehr. Da ist kein Versteck mehr, kein Zusammenkauern, kein In-die-Höhle-kriechen mehr notwendig. Darüber hinaus: Der in Shavasana entspannt zur Ruhe kommende ist in sein unbeschädigtes Selbst eingetreten. Er spürt im selben Augenblick den allumfassenden Umfang seines energetischen Wesens im Innen- und Außenraum. Er regiert nicht mehr auf (erzwungene) Abspaltungen seiner selbst im ganz frühen Kinde. Er hat vollständig integriert, was zu seinem Wesen gehört - und zum Wesen Gottes, er wandelt vom So-Sein ins Sein. Er kommt zur Ruhe. Er hat qua seiner sensitiv-meditativen Praxis durchdringend überschrieben das Zerwundene. Und bezeugt diese Ruhe durch das wache Bewusstsein seiner Lage. Heil bildet sich ab, wo Heilung geschah.